Er war der erste Weltstar des Fußballs, wurde vergöttert als "La Maravilla Negra", als "Das schwarze Wunder": José Leandro Andrade. Als genialer Regisseur führte er Uruguay 1924 und 1928 zum Olympiasieg, 1930 zum WM-Titel. Als Musikant und Tänzer tingelte er durch die Pariser Varietés - und endete im Armenhaus.
"Sein Leben mutet beinahe an, als habe man dafür eigens den Begriff des Klischees erfunden: Armer Neger aus dem Hafenviertel wird berühmt in der weiten Welt, kehrt gefeiert zurück, fällt dem Suff und der Armut anheim und stirbt ohne einen Centavo im Armenhaus seiner Geburtsstadt", heißt es über Andrade in Dieter Reibers Nachschlagewerk "Jahrhundert-Fußball im Fußball-Jahrhundert".
Andrade war die erste "schwarze Perle" des internationalen Fußballs, laut Weltverband der Fußballhistoriker und Statistiker (IFFHS) "der weltbeste Spieler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts". Schlagzeilen machte er auch als Showstar - in den Pariser Nachtclubs der 1920er- und 30er-Jahren.
Bei seinem ersten Verein Penarol Montevideo verkannte man Andrades Talent. 1922 gelang ihm der Durchbruch bei Bella Vista Montevideo, 1923 bestritt er sein erstes Länderspiel. Nominell Außenläufer, führte er in Wahrheit Regie, choreographierte sein Spiel wie ein Ballett. Außergewöhnlich beweglich, spielte er fast körperlos.
Andrade soll den Scherenschlag erfunden haben, Fallrückzieher und Flugkopfball beherrschte er perfekt. Das deutsche Fachblatt "Fußball" staunte 1924 noch im besten Kolonialherren-Deutsch: "Der lange Andrade fällt bei Uruguay durch sein bevorzugtes Kopfballspiel auf. Die Neger scheinen Schädel wie Kokosnüsse zu haben."
Vor allem aber hatte Andrade Musik im Blut. Schon als Jugendlicher gründete er eine Tanzgruppe, "Die armen kubanischen Neger". Den Karneval von Montevideo bereicherte er als König des "Candombes", des Nationaltanzes. Nach dem Olympiasieg 1924, ein Jahr, bevor eine andere Farbige, Josephine Baker, "tout Paris" mit "Neger-Revue" und Bananentanz verrückt machte, tingelte Andrade erstmals singend und tanzend durch die Nachtclubs an der Seine.
"Gut sieht er aus, der Modellathlet, und zu verkaufen weiß er sich auch. In den Bars und Cafés rund um den Montmatre hält er sich auf. Als Sänger und Tänzer verdient er seinen Lebensunterhalt. Die wohlhabenden Familien legen Wert darauf, ihn als Klavierstimmer ins Haus zu holen. Die Musik liegt ihm im Blut und die Frauen ihm zu Füßen. Darunter leidet sein Privatleben, zwei Ehen gehen zu Bruch", werden Zeitzeugen zitiert.
Nach Beendigung seiner Karriere - das WM-Finale 1930 war sein letztes Länderspiel - kehrte er nach Paris zurück und zog als Bettler durch die Straßen. Der deutsche Journalist Fritz Hack spürte ihn kurz vor seinem Tod im Armenhaus in Montevideo auf: "In einer spartanisch eingerichteten Behausung fand ich Andrade, der total dem Alkohol verfallen und durch eine Augenverletzung inzwischen halbseitig erblindet war. Meinen Fragen konnte er nicht mehr folgen. Die Antworten gab seine bildhübsche Frau."
Etliche Chronisten glauben, dass Andrade ein Megastar und reich geworden wäre, wäre er 40 Jahre später geboren worden. So aber bleibt er, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, "eine vergessene Gestalt aus ferner Fußballzeit, von deren Kunst nur ein paar unscharfe Standbilder und einige schwärmerische Beschreibungen übrig geblieben sind."
Frank Menke
José Leandro Andrade bei der WM 1930