1954 · Grosics

Finale: 7. Juli 1954, Bern
Mannschaft1 Mannschaft2 Ergebnis
Flagge DeutschlandDeutschland gegen Flagge UngarnUngarn3 : 2
 

Vorspiel zum Volksaufstand

Zweieinhalb Jahre haben sie kein Spiel verloren. Dann müsste Rahn aus dem Hintergrund schießen und macht das auch - mit fatalen Folgen für die ungarischen Nationalspieler. Nach dem Desaster im WM-Finale 1954 werden sie in ihrer Heimat von der kommunistischen Diktatur drangsaliert und abgestraft. "Die Wunde von Bern" wird zur Ouvertüre des ungarischen Volksaufstandes zwei Jahre später.

Es ist halt mehr als nur ein Fußballspiel, auch, nein, vor allem aus ungarischer Sicht. Nach dem Abpfiff stürmen Hunderttausende auf die Straßen Budapests. Die aufgebrachte Menge wirft Schaufenster ein, macht ihrem Unmut mit Sprechchören gegen das Regime Luft, kippt eine Straßenbahn um, zerfetzt Fotografien der Spieler, verwüstet die Wohnung von Nationaltrainer Gusztáv Sebes und schlägt seinen Sohn zusammen. Torhüter Guyla Grosics ist sich bis heute sicher: "Ohne die Niederlage von ‘54 hätte es 1956 nicht gegeben."

Stalins bester Schüler: "Niemand muss Angst haben"

Grosics hat am meisten unter den Repressalien zu leiden - auch deshalb, weil er nicht wie andere ins Ausland flüchtet. Man macht größtenteils ihn für die Niederlage verantwortlich, vor allem Rahns Treffer zum 2:3 hätte er halten müssen. Als die Spieler mit dem Zug in ihre Heimat zurückkehren, werden sie von Polit-Funktionären vor Budapest abgefangen und per Auto ins Trainingslager Tata gebracht. Der gefürchtete KP-Chef Mátyás Rákosi, "Stalins bester Schüler", behauptet zwar, niemand müsse Angst haben, bestraft zu werden. Doch im Kommunismus ist ein solches Versprechen nichts wert.

"Einen anderen hätten wir längst gehängt"

Im Januar 1955 wird Grosics wegen angeblicher Spionage und Landesverrats verhaftet. Er muss zwar nicht ins Gefängnis, steht aber 13 Monate unter Hausarrest, ehe er freigesprochen wird. Sportlich ist er am Ende. Er darf nicht mehr für den Renommier-Klub Honved Budapest auflaufen, wird in die Provinz zu Tatabanya strafversetzt. Immerhin bleibt er am Leben. Ein Funktionär bescheinigt ihm: "Einen anderen hätten wir bei dieser Anschuldigung längst gehängt."

Klassenkamerad rettet Grosics

Nach der Niederschlagung des Aufstands durch sowjetische Panzer kommt eine unerwartete Chance. Honved lädt Grosics zu einer Tournee des Vereins ein, die bis nach Brasilien führt. Dort macht ihm der Rio-Klub Flamengo ein Angebot, das man eigentlich nicht ablehnen kann. Der heimatverbundene Torhüter kann. 1957 kehrt er mit Ehefrau und den zwei Töchtern nach Ungarn zurück. An der Grenze empfängt ihn der Geheimdienst, eskortiert ihn zur Staatssicherheit. Grosics’ Glück: Der Oberbefehlshaber ist ein Freund aus Grundschultagen. Nach einem Verhör darf er gehen.

Ungarns Fußball blutet aus

Andere nutzen die Honved-Tournee zur Flucht. Puskás, Czibor und auch Kosics setzen sich nach Spanien ab und werden bei Real Madrid und beim FC Barcelona zu Millionären. In ihrem Gefolge verlassen auch 13 von 16 Jugendnationalspielern das Land. Der ungarische Fußball blutet aus - ein Aderlass, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Ebenso wenig wie von der "Wunde von Bern". Bezeichnend sind die letzten Worte von Trainer Sebes auf dem Sterbebett: "Wir haben verloren." 

Frank Menke

Bildkombo. Oben: der ungarische Torhüter Grosics hechtet vergeblich nach dem Schuss von Rahn. Unten: Die ungarische Mannschaft schauen bei der Siegerehrung. Fotos: dpa

Oben: Der ungarische Torhüter Grosics kann Helmut Rahns Schuss nicht halten. Unten: die Ungarn bei der Siegerehrung.